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Russland Ratten

Russland: Wie die Ratten

Sogar tagsüber können die Temperaturen auf minus 36° C fallen. Die Obdachlosen in Krasnojarsk verkriechen sich in Heizungskeller und Kanalisationsschächte, die sie sich mit Ratten teilen – für die Gesellschaft eine ungefähr gleichwertige Spezies.

Sie sind die trostlosesten Gestalten, die man sich vorstellen kann. Und dennoch nicht weniger wertvoll als die übrige Stadtbevölkerung. Jedenfalls steht es ihnen zu, dass ihnen geholfen wird.

Wärme für Magen und Seele
Igor und Swetlana rühren erneut im großen Suppentopf. Diesmal tauchen nur zehn hungrige Obdachlose auf, doch auch für wenige lohnt sich die Mühe. Über die heiße Suppe hinaus sind es vor allem die freundlichen Worte unserer Mitarbeiter, die eine nachhaltig wärmende Wirkung entfalten. Die Obdachlosen in Sibirien kämpfen im Winter ums nackte Überleben. Die Wracks, die zu unserer Suppenküche (Essensausgabe unter freiem Himmel) drängen, sind teilweise kaum noch als Menschen erkennbar. Das harte Leben auf der Straße, der zerstörende Alkohol- und Drogenmissbrauch hinterlassen unübersehbare Spuren.

Tanja und Sascha treffen heute spät ein, stehen bald schon zum zweiten Mal vor dem Suppentopf. Das Paar haust im Heizungskeller eines Hochhauses. Ob die Bewohner davon wissen? Selbst wenn, Hilfe seitens der »Normalbürger« ist keine zu erwarten; nicht rausgeschmissen zu werden ist schon viel. Vielerorts halten Schlösser vor Kellertüren unerwünschte »Untermieter« ab. Tanjas Erscheinung ist schockierend: ausgemergelt, das Gesicht eingefallen, ein Ohr geschwollen. Wieder hat sie Schläge eingesteckt. Manche Jungendliche sehen es als sportliche Übung an, Obdachlose zu verprügeln. In der Gosse ist Gewalt allgegenwärtig, medizinische Hilfe jenseits des Erreichbaren. Die beiden besuchen uns gern; wir hoffen, dass sie bald in eine Drogentherapie einsteigen.

Zu lange gezögert
Swetlana berichtet über Olga, und wird traurig. Diese kam vor einem Jahr öfters zum Essen. Die beiden freundeten sich an, führten gute Gespräche miteinander. Swetlana bot Olga einen Therapieplatz und damit die Chance auf ein neues Leben an. Doch Olga zauderte. Eine Woche später war sie tot; erfroren.

Helfen aus Leidenschaft
Igor und Swetlana arbeiten aus Leidenschaft unter den Obdachlosen. Igor hat selbst 20 Jahre Drogensucht hinter sich und am eigenen Leib unter den katastrophalen Begleiterscheinungen gelitten. Weil er selbst mit dem Status des gesellschaftlich Geächteten vertraut ist und im liebevollen Klima eines unserer Therapiehäuser frei geworden ist, setzen er und seine Frau jetzt alles daran, andere dorthin zu schleusen. 40 Obdachlose haben bereits das Angebot angenommen und den ersten Schritt in ein neues Leben gewagt.